Nach dem Kölner Urteil „Beschneidung ist nicht harmlos“

sueddeutsche.de, 4.7.2012
Ein Gastbeitrag von Wolfgang Schmidbauer

Das Urteil des Kölner Landgerichts zur Beschneidung ist auf heftige Kritik gestoßen. Der traditionelle Eingriff wird unter anderem mit hygienischen Gründen verteidigt. Doch das sind durchsichtige Vorwände.

Das Kölner Landgericht hat die Beschneidung logisch als das definiert, was sie nun einmal ist: Körperverletzung, nur dann rechtlich unbedenklich, wenn sie von einem mündigen Individuum in freier Entscheidung gewollt wird.
Dagegen argumentieren die Vertreter des Brauchtums – wie auch Matthias Drobinski in der SZ – damit, dass Beschneidung „dem Wohl des Kindes“ diene und Männer ohne Vorhaut gerade so gut leben wie mit ihr.

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Hier wird eine breite wissenschaftliche Debatte ignoriert, die die Bedenkenlosigkeit stark in Frage stellt, mit der vor allem in den USA Männer aus „hygienischen“ Gründen als Säuglinge beschnitten werden.

Beschnittene Männer berichten in Psychotherapien darüber, dass sie unter dem Gefühl leiden, es sei ihnen ohne ihr Einverständnis etwas weggenommen worden. In der Tat hat die Vorhaut wichtige erotische Funktionen: Sie erleichtert die Penetration und erhält die sexuelle Erregbarkeit.

Die „hygienischen“ Rechtfertigungen sind durchsichtige Vorwände. Sie sollen einen Brauch legitimieren, der sehr alt ist und ein angespanntes Verhältnis zur Sexualität formuliert, das gegenwärtig sogar manchmal als eine Art Penis-Verbesserung gehandelt wird.

Routine infant circumcision (RIC) – routinemäßige Neugeborenenbeschneidung – nennt sich die Praxis, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, um die in der prüden viktorianischen Gesellschaft verpönte Masturbation zu erschweren. Auch in Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika war beziehungsweise ist RIC verbreitet, doch nirgendwo auf der Welt war der Siegeszug so triumphal wie in den USA, wo in den siebziger Jahren mehr als 90 Prozent der weißen Bevölkerung beschnitten waren.

Die Entfernung der Vorhaut von Säuglingen ist buchstäblich einschneidender als die von Erwachsenen oder älteren Kindern. Da Vorhaut und Eichel bei fast allen Neugeborenen noch fest verwachsen sind, ähnlich wie Fingernägel mit dem Nagelbett, müssen diese beiden Strukturen zunächst einmal auseinandergerissen werden. Danach wird – je nach Methode – die Vorhaut längs abgeklemmt und eingeschnitten, mit einem Beschneidungsinstrument rundum für mehrere Minuten gequetscht und schließlich mit einem Skalpell amputiert.

Die gesamte Operation dauert bis zu zwanzig Minuten. Obwohl in medizinischen Studien bewiesen wurde, dass die Neugeborenen extreme Schmerzen erleiden, ist eine adäquate Betäubung auch heute noch eher die Ausnahme als die Regel. Ethisch besonders bedenklich wird RIC zudem dadurch, dass es sich um einen medizinisch unnötigen, kosmetischen Eingriff an einem nicht zustimmungsfähigen Patienten handelt.

Kein nachdenklicher und einfühlender Mensch wird es billigen, dass Säuglingen ein Teil ihres Körpers weggeschnitten wird und sie später womöglich in ihren sexuellen Funktionen beeinträchtigt leben müssen. Dass manche dieser Opfer die Beschneidung als sexuelle Bereicherung und hygienische Notwendigkeit propagieren, steht für die Identifikation mit dem Angreifer, die sich bei vielen Traumatisierten beobachten lässt. Sie führt auch zu der merkwürdigen Zähigkeit, mit der Kulturen und Religionen an qualvollen Ritualen festhalten. Ein Lehrbeispiel ist die grausame Genitalverstümmelung, mit der afrikanische Mütter ihre Töchter zu „richtigen“ Frauen zu machen behaupten.

Ein unbeschnittener Mann war in vielen Kulturen einfach kein „richtiger“ Mann. Die Operation war früher blutig und manchmal tödlich, da sie als Initiationsritus an Adoleszenten vorgenommen wurde. In der Bibel ist eine Kriegslist beschrieben, in der die Männer einer Stadt mit einem Bündnisversprechen überredet werden, sich beschneiden zu lassen. Als sie im Wundfieber lagen, wurden sie niedergemacht.

Dass männliche Säuglinge heute den Eingriff fast durchweg überleben und sich später nicht an ihn erinnern, macht die Sache nicht humaner, sondern nur weniger übersichtlich. Die Beschneidung der Säuglinge fügt sich in die zahlreichen Versuche der Religionsgemeinschaften ein, möglichst früh bindende Rituale zu vollziehen. Das soll verhindern, dass diese von dem erwachten kritischen Geist überprüft und womöglich abgelehnt werden. Es sollte aber keine Frage sein, welche Haltung besser in eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft passt: der Übergriff an Wehrlosen oder die Geduld, mit der eine reflektierte Entscheidung abgewartet wird.

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